Dornröschen

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Charles Perrault

Vor langer, langer Zeit gab es einen König und eine Königin, die jeden Tag zueinander sagten:

- Stellen Sie sich vor, wir hätten sowieso ein Kind gehabt! Aber sie hatten noch nichts erhalten.

Eines Tages, als die Königin badete, kroch ein Frosch aus dem Wasser und sagte zu ihr:

- Deine Sehnsucht soll erfüllt werden. Innerhalb eines Jahres werden Sie eine Tochter bekommen.

Genau wie der Frosch gesagt hatte, hatte die Königin eine Tochter. Sie war so schön, dass der König überglücklich war und ein großes Fest veranstaltete. Er lud nicht nur seine Verwandten, Freunde und Bekannten, sondern auch die Feen ein, freundlich und gnädig zu dem Kind zu sein. In seinem Königreich gab es dreizehn Feen. Da er aber nur zwölf goldene Teller hatte, auf denen sie essen konnten, musste der dreizehnte zu Hause bleiben.

Die Party wurde mit Prunk und feierlichem Flair gefeiert und als sie zu Ende war, überreichten die Feen der Prinzessin wundervolle Geschenke. Einer verlieh ihr Tugend, ein anderer Schönheit, der dritte Reichtum und so weiter. Die kleine Prinzessin hat alles bekommen, was man sich auf dieser Welt nur wünschen kann.

Als elf der Feen ihre guten Wünsche verkündet hatten, trat plötzlich die dreizehnte ein. Sie wollte Rache dafür, dass sie nicht eingeladen worden war und ohne jemanden zu begrüßen oder auch nur anzusehen, rief sie mit lauter Stimme:

- Die Königstochter wird sich im Alter von fünfzehn Jahren mit einer Libelle erstechen und tot umfallen. Ohne ein weiteres Wort drehte sie sich um und verließ den Flur.

Alle waren entsetzt. Dann trat die zwölfte Fee vor, die ihren Wunsch noch nicht angekündigt hatte. Da sie die böse Prophezeiung nicht auslöschen, sondern nur mildern konnte, sagte sie:

- Die Prinzessin wird nicht sterben, sondern hundert Jahre lang tief und fest schlafen.

Der König wollte sein geliebtes Kind bewahren und erließ deshalb den Befehl, alle Libellen im ganzen Königreich anzuzünden. Die Wünsche der Feen passten perfekt zu dem Mädchen. Sie wurde schön und gut, freundlich und weise, und jeder, der sie sah, liebte sie.

An dem Tag, als sie fünfzehn wurde, waren der König und die Königin nicht zu Hause und das Mädchen war allein im Schloss. Dort streifte sie überall umher, spähte nach Belieben in Säle und Kammern und gelangte schließlich zu einem alten Turm. Eine schmale Wendeltreppe führte zu einer kleinen Tür. Im Schloss steckte ein rostiger Schlüssel. Als sich das Mädchen umdrehte, öffnete sich die Tür und in der kleinen Kammer saß eine alte Frau neben einer Libelle und spannte eifrig ihre Leine.

- Guten Tag, Tante, sagte die Prinzessin, was machst du?

- Ich schnurre, antwortete die alte Frau und nickte mit dem Kopf.

- Was dreht und summt so lustig? fragte das Mädchen und sie nahm die Libelle und wollte sie auch drehen. Doch kaum hatte sie das Gewand der Spinnerin berührt, als die Vorhersage wahr wurde, steckte sie ihren Finger auf die Libelle.

In dem Moment, in dem sie sich selbst erstochen hatte, sank sie auf das dort stehende Bett und fiel in einen tiefen Schlaf. Das ganze Schloss schlief gleichzeitig mit ihr ein. Der König und die Königin, die gerade nach Hause gekommen waren und den Saal betraten, schliefen ein, und mit ihnen der ganze Hof. Die Pferde im Stall, die Hunde im Hof, die Tauben auf dem Dach, die Fliegen an der Wand, ja, alle schliefen, sogar das Feuer, das im Ofen loderte, wurde still und schlief ein. Der Braten hörte auf zu brutzeln und der Koch, der dem Küchenjungen gerade eine Ohrfeile geben wollte, schlug ihn nicht, aber beide schliefen ein. Der Wind ließ nach und die Bäume außerhalb der Burg hörten auf zu rascheln.

Rund um die Burg wuchs eine Dornenhecke. Jedes Jahr wurde es höher und höher. Schließlich umgab es die gesamte Burg und überragte die Türme, so dass nicht einmal die Fahnen sichtbar waren.

Im Königreich erzählte man die Geschichte der schönen schlafenden Dornröschen – so wurde die Prinzessin genannt – und manchmal kamen Prinzen und junge Ritter, die die Hecke durchbrechen wollten, um ins Schloss zu gelangen. Aber das war unmöglich, weil der Dorn so dicht war. Mehrere junge Menschen blieben dort hängen, ohne sich befreien zu können, und starben einen schrecklichen Tod.

Nach vielen langen Jahren kam endlich ein Prinz ins Königreich und hörte, wie ein alter Mann von der Dornenhecke erzählte. Darin sei ein Schloss, sagte der alte Mann, in dem seit hundert Jahren eine wundervolle Prinzessin schliefe und mit ihr der König, die Königin und der ganze Hofstaat. Der alte Mann hatte auch seinen Großvater sagen hören, dass viele Prinzen dorthin gekommen seien und versucht hätten, in die Hecke einzudringen, aber sie seien steckengeblieben und einen traurigen Tod gestorben. Dann sagte der Jugendliche:

- Ich habe keine Angst, ich möchte dorthin fahren und das schöne Dornröschen sehen. So eifrig der alte Mann ihm auch riet, der Prinz hörte nicht auf seine Worte.

Tatsächlich waren die hundert Jahre gerade erst vergangen. Der Tag war gekommen, an dem Dornröschen wieder aufwachen würde. Als sich der Königssohn der Hecke näherte, stellte sich heraus, dass sie aus sehr großen, wunderschönen Rosen bestand. Sie duckten sich aus eigenem Antrieb und ließen ihn völlig unverletzt passieren. Hinter ihm gelangten sie wieder zu einer Hecke.

Im Burghof sah er die Pferde und die bunt zusammengewürfelten Jagdhunde liegen und schlafen. Auf dem Dach saßen die Tauben mit den Köpfen unter den Flügeln. Als er das Schloss betrat, sah er die Fliegen auf der Mauer schlafen. Der Koch in der Küche hielt immer noch seine Hand über den Küchenjungen erhoben. Das Dienstmädchen saß mit dem schwarzen Schwanz, der gerupft werden sollte.

Als der Prinz weiterging, sah er das ganze Schloss im großen Saal schlafen und auf dem Thron den König und die Königin schlafen. Er ging weiter und alles war so still, dass man jeden Atemzug hören konnte. Schließlich kam er zum Turm und öffnete die Tür zu der kleinen Kammer, in der Dornröschen schlief.

Da lag sie und war so schön, dass er den Blick nicht von ihr lassen konnte. Er bückte sich und gab ihr einen Kuss. Sobald sein Mund den Mund des Mädchens berührt hatte, öffnete sie die Augen, wachte auf und sah ihn freundlich an. Dann gingen sie zusammen hinaus und der König, die Königin und der ganze Hof erwachten. Alle sahen sich mit großen Augen an. Die Pferde auf dem Bauernhof standen auf, die Hunde sprangen und wedelten mit dem Schwanz. Die Tauben auf dem Dach zogen ihre Köpfe aus ihren Flügeln, schauten sich um und flogen über die Felder hinaus. Die Fliegen an der Wand krochen weiter. Das Feuer in der Küche ging los, der Braten fing an zu brutzeln, der Koch gab dem Küchenjungen eine Ohrenfeile, sodass dieser schrie, und das Dienstmädchen beendete das Rupfen des Hahns.

So feierten der Prinz und Dornröschen ihre Hochzeit mit Prunk und Pomp und lebten dann glücklich bis ans Ende ihrer Tage.

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